Gedanken zu neueren Arbeiten von Heiner Studt
(Für den Katalog „Weltsegmente, Dokumente und Perspektiven. Einführung in das Werk von Heiner Studt. Künstlerische Arbeiten 2004-2017“, Galerie pack of patches, Jena 2017)
Wer zum ersten Mal konfrontiert wird mit den großen Arbeiten von Heiner Studt wie z.B. „Dominante Jena“ (2001) oder „Glatter Fels“ (2010), der könnte den Eindruck gewinnen, es mit reichlich abgewetzten Fotografien in einem erbärmlichen Erhaltungsgrad zu tun zu haben, die neben Neugier auch durchaus Mitleid erwecken können. Der Künstler selber spricht bei der Serie „Der Geruch“ (2003/2004) von „34 zerkratzten Bildern“. Es dauert ein wenig, bis man feststellt, dass den Fotografien nicht einfach nur Gewalt angetan, ihnen etwas von der Substanz weggenommen wurde, sondern dass es sich bei den Bildern um Resultate eines Transformationsprozesses handelt, bei denen das Ausgangsfoto per Computer und Schere in zig Druckvorlagen-Puzzlestücke zerlegt und hierbei erstmals Eingriffe vorgenommen werden, die dann im mühsamen Handdruckverfahren weitere Verwandlungen erfahren, bei denen „Sentiment und Erinnerung“ ebenso wirksam werden wie Tagesform und Stimmungslagen. Bei der „Dominante Jena“ ist immer noch Wut im Spiel über die erlebten Bausünden aus der Zeit Walter Ulbrichts, als der 1945 von Bombenangriffen verschonte Eichplatz diesem Turm weichen musste.
Der Künstler, der sich konzeptionell immer dem Realismus verpflichtet fühlt und mit akribischen Feder- und Bleistiftzeichnungen in seine Laufbahn gestartet war, hat mit dem Handruckverfahren einen Weg gefunden, der sich öffnet für positive und subjektive Eingriffe in den Umgang mit der Realitätsanmaßung der Fotografie.
Der Eingriffsspielraum erweitert sich nochmals erheblich, wenn wie bei der Serie „Im Ries“ (2005) die im Gicléedruck mögliche Farbigkeit bei der Computerbearbeitung der Fotovorlagen greift: Fertige farbige Ausdrucke können wieder und wieder bearbeitet werden, alle analogen (durch Bekleben, Übermalen etc.) und digitalen (Farbumwandlungen, schwärzen, mit Hintergründen versehen etc.) Eingriffe sind möglich und erweitern das Ausdrucks- und Verfremdungsspektrum erheblich. Das Nebeneinander beider Techniken in der selben Serie (schwarzweißem Handdruckverfahren und farbigem Gicléedruck) führt zu einem überraschenden Mix von hand- und computergenerierten Bildelementen, die dem Ausgangsfoto die Anmutung eines langsameren Entstehungsprozesses und eines emphatischen Zugangskanals zum Künstler verschaffen. Diese Ebene verlässt die direkt lesbaren Bildelemente und setzt Einfühlungs- und Interpretationsarbeit in Gang, rückt die überarbeiteten Fotos dorthin, wo sie hingehören: in die Nähe klassischer Bilder, zumindest was den Entstehungsprozess und den Rezeptionsvorgang angeht.
Auch wenn die Bilder einen langen Überarbeitungsprozess hinter sich haben, sind die Ausgangsfotos keine beliebige Startgrundlage, sondern wesentlicher Teil der Ikonographie: Zu der Serie „Amalfiküste und Vesuv“ (2008) schreibt der Künstler: „Nichts bleibt, wie es war, irdische Ruhephasen sind in generationsübergreifenden Zeitdimensionen seltene Momente innerhalb einer planetaren Unrast“ – und fast eruptiv wendet er diese Einsicht auf die Ausgangsfotos an, die selber zum Ort brodelnder Veränderung werden.
Worin bestehen nun die Elemente, die der Künstler den Fotografien hinzufügt? In der Serie „Hamburg Totale“ (2014) hält sich Heiner Studt erstaunlich zurück mit seinen Eingriffen, nur relativ wenige Verletzungen der Fotooberfläche sind erkennbar, dafür seltsame schwachfarbene Flecken. Aber unter jedem Bild läuft eine winzige Textzeile durch mit Auszügen aus dem Hamburger Verfassungsschutzbericht aus dem Vorjahr, den Islamismus betreffend. Dazu Heiner Studt: „Schrift, Linie und Fleck sind Fremdkörper im klassischen Motiv der Vedute.“ Es handelt sich also nicht um Verschönerung, Aufhübschung oder Genießbarmachung der teilweise sehr nüchternen abgelichteten Industrieorte, sondern um eine aktive Verfremdung, einen Zusatz, der sich der einfachen Lesbarkeit entzieht – auch bei dem Text, der sich nicht aus den Bildern ergibt, allenfalls aus der Auseinandersetzung des Künstlers mit gesellschaftlichen Krisenherden, denen er Raum gibt in seinen Politischen Salons, die ebenfalls in seinem Atelier stattfinden. Heiner Studt als „homo politicus“ malt auch mit Schrift, lässt Einsichten aus anderen Erkenntnisbereichen in seine Bilder einfließen, wie z.B. in dem Künstlerbuch „Onkel Heiners große Fahrt“ und der gleichnamigen Bilderserie (2006/2008), in der er sich anhand überarbeiteter geowissenschaftlicher Bilder vom Meeresboden mit der Außenseiterposition der „Erdexpansionstheorie“ auseinandersetzt, die, wenn sie dereinst bestätigt würde, viele Theoreme der Erdgeschichte einfacher und zwingender begründen könnte.
In den mit der „Hamburg Totale“ verwandten Serien „Hamburg bunt“ und „Hamburg negativ“ verzichtet Heiner Studt auf die politischen Implikate durch Text, stattdessen kommt nun stärker der „homo ludens“, das Element des Spielens und Experimentierens zum Tragen: „Meine Eingriffe sind rabiater und spielerischer, und ich arbeite auf der Basis von gekonterten Negativ-Fotoabzügen, dabei teilweise die Originalnegative freilegend.“
Die Serie „Große Weltausschnitte“ (2010) nimmt in Heiner Studts und meinen Arbeiten eine Sonderstellung ein: Wir haben aus einem Stapel alter Illustrierten-Fotos eine gemeinsame Auswahl getroffen – um sie dann parallel, aber in jeweils unserer persönlichen Arbeitsweise in Bilder zu verwandeln. Heiner Studt hat die spielerische Überarbeitung im farbigen Gicléedruck mit mehrfachen Eingriffen vor dem Druck nach dem Muster von „Hamburg bunt“ experimentell und farbig auf die Spitze getrieben – zugleich aber, wie in „Hamburg Totale“ eine irritierende Sammlung von Text- und Formel-Zitaten aus dem Text „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ von Albert Einstein (1905) an unterschiedlichen Stellen hinzugefügt – bezeichnet die Zitate aber selber als Unsinn. Die Ausgangsfotos sind ihres textlichen Zusammenhangs entrissen, die Zitate bringen eine neue, zwar lesbare, aber nicht identifizierbare Bedeutungsebene hinzu und erweitern die vorhandenen Bildchiffren, die ja eine entschlüsselbare Bedeutung suggerieren, um eine weitere verrätselte Komponente. Was nicht gelesen werden kann, muss mit „anderen Augen“ wahrgenommen werden – auch hier wird das Ausgangsfoto zum Bild und kann nur über seine Bildelemente interpretiert werden, auch wenn dann fotografische, textliche und freie malerische und grafische Elemente um Bedeutung und Deutung buhlen und mehr Spielräume öffnen als ausschließen.
Als letztes möchte ich die Serie „Portraits, Handdrucke“ (2012) ansprechen. Portrait und Fotografie scheinen natürliche Verbündete zu sein, zu sehr ist mit dem Portraitieren das Erreichen von Ähnlichkeit verbunden. Wenn man sieht, in welchen Posen Heiner Studt die zu Portraitierenden abgelichtet hat, scheint das Maß an Portraitkunst schon übererfüllt zu sein. Ich kann mitreden; denn ich war bei so einer Sitzung bei Heiner Studt dabei – als Modell. Und ich weiß noch, wie ich anschließend vor den beiden Fotos saß und mich fragte, woher Heiner Studt von der wichtigen und engen Rolle des Accessoirs wusste, das er mich mitzubringen gebeten hatte – und mit dem er mich in so mir selber erhellender Pose abgelichtet hatte. Die Verwandlung im Handdruckverfahren schuf gleichzeitig eine distanzierende und integrierende Ebene, die sparsam bearbeitete Bildfläche und die eingefügten Bildelemente machten mir gleichzeitig Heiner Studts Sicht und dadurch eine gewisse Entobjektivierung deutlich, die mir in doppelter Hinsicht ermöglichte, mich dem Ab-Bild in seiner bearbeiteten Fassung anzunähern. Heiner Studt hat keine Textzeile in die Portraits eingefügt, wohl aber auf seiner Website (aus der auch die anderen Zitate stammen) über Gunnar Heinsohn, der auch in seinen Salons eine erhebliche Rolle spielte, eine Äußerung: „Gunnar Heinsohns Forschungen und Entdeckungen waren mir, seit ich sie zur Kenntnis nehme, Augenöffner; seiner mangelnden Scheu, im Dienste der Erkenntnisgewinnung auch gegen den Strom zu schwimmen, begegne ich mit Hochachtung.“
So sehe ich Heiner Studt: Neugierig, nicht nur wo alle nach Lösungen suchen; radikal im positiven Sinne – den Dingen auf den Grund zu gehen; belesen und gebildet – nur sein großes Atelier bewahrt ihn vor der Verstaubung inmitten seiner Buchanschaffungen; mutig in der Bildentwicklung und technisch auf der Höhe der Zeit, man kann von ihm lernen, vor allem Haltung. Die Kunst besteht darin, sich selber Regeln zu geben – und sie jederzeit auf den Prüfstand zu stellen.
Ein unruhiger Geist?
Selbstverständlich!
Hamburg, den 16.6.2017