Reliquien-Produzent Joseph Beuys

Ein Beitrag zur Selbstaufklärung, unternommen von Heiner Studt

(aus einem Skript der Arbeitsgruppe Beuys in der Galerie Morgenland, zu deren weiteren Teilnehmern Gerd Koch, Gerd Heide, Matthias Oppermann und Peter Paulwitz-Matthäi gehörten, 2004)

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An Beuys scheiden sich die Geister. Der folgende Text unternimmt den Versuch, zu klären, warum das so ist. Er ist subjektiv in dem Sinne, dass ich meine eigenen politischen, künstlerischen und philosophischen Grundüberzeugungen in die Argumentation eingehen lasse. Insofern ist er ein Beitrag zur Selbstaufklärung der Grundlagen von Kunst und Leben, die ich – das schon eine Differenz zu Beuys – nicht gleichsetze.

Mir geht es nicht darum, den Rang der Kunst von Joseph Beuys herabzusetzen, sondern darum, zu begründen, warum mir große Teile von Beuys’ Werk missfallen.

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Sympathisch war er mir als einem „Antiautoritären“ damals im Jahre 1968 schon, als dieser Joseph Beuys die Autoritäten der Düsseldorfer Kunstakademie herausforderte, ja sie bis zum Äußersten provozierte, indem er den Numerus clausus für seine Klasse aufhob und mit der Besetzung des Rektorats den studentischen Protest anführte. Heute im Abstand auch von meinem eigenen Wunschdenken erscheinen mir Beuys’ Aktivitäten als geschickte Inszenierungen zur Beförderung seiner Karriere als Großkünstler. Er etablierte sich als eine Art Guru oder Messias. Die damaligen politischen Bewegungen hat er gnadenlos benutzt, wie das auch schon Kollegen der Düsseldorfer Akademie deutlich erkannten. Norbert Kricke, Bildhauerkollege an der Akademie, schrieb in der „Zeit“ am 20.12.1968: „Beuys und seine Schüler schwärmen. Fanatisierte Jünger des Meisters durchlaufen die Akademie wie ferngelenkte Medien, tuscheln und rascheln und zeigen eine insektenhafte Aktivität, sind clever, eifrig und emsig wie Maos kleine Chinesen… Angst scheint seine Triebkraft zu sein, sie sitzt tief und überall bei ihm: Technik ist böse, Heute ist böse, Autos sind schrecklich, Computer unmenschlich, Fernseher auch, Raketen sind furchtbar, Atome gespalten zerrütten die Welt. Flucht in das Gestern, Besserung der Menschen, Sehnsucht nach rückwärts; altes Gerät, Kordeln mit Gebündeltem, Staub und Filz, Befettetes, Wachs und Holz, mürbes Gewebe, Trockenes und Geschmolzenes, alles serviert er grau, braun und schwarz wie dunkel gewordene alte Gemälde, Museumsstaub, Museumsgeruch an allen Objekten schon bei der Entstehung, dämmerig und wenig belüftet die Welt seiner Dinge; dauerndes Spiel, Versteck im Versteck, Wachs auf der Kiste, Fett im Eck, in den Teppichrollen qualvoll lange drinnen bleiben: Er nimmt es auf sich für uns alle. Das ist sein Anspruch: Vertreter im Leiden, er spielt den Messias, er will uns bekehren, er will die Akademie die Rolle der Kirchen übernehmen lassen – das ist für mich sein Jesus-Kitsch.“ (Heiner Stachelhaus: Joseph Beuys, Econ, Düsseldorf 1996, S. 119) In diesem für mich erstaunlichen Text erkenne ich meine eigenen Empfindungen: einerseits Faszination angesichts der Materialästhetik, die Beuys virtuos handhabt, andererseits Befremden gegenüber dem messianischen Anspruch dieses seine Grenzen unzulässigerweise übertretenden Künstlers.

Beuys war offen genug, auch sich benutzen zu lassen zum gegenseitigen Vorteil, so z.B. von den Grünen. Das alles mag man bewundern. Clever, der Mann! Aber man braucht es nicht. Dass ein Politiker wie der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Johannes Rau sich vom Gegner zum Befürworter von Beuys wandelte, zeigt nur, wie eine einmal gefestigte Prominenz – Beuys wurde ja durch seine Verletzungen der Regeln und Gesetze weltberühmt – einen unwiderstehlichen Eros entwickelt. Da will dann keiner mehr dagegen gewesen sein. So berichtet Stachelhaus, 1973 haben Düsseldorfer Richter Johannes Rau ins Stammbuch geschrieben, „daß für Nordrhein-Westfalen ein bißchen vom ständig wachsenden Bekanntheitsgrad des Künstlers Beuys mit seinen umstrittenen Aktionen abgefallen sei. Und so habe das beklagte Land stets vom Ruhm des Klägers profitiert…“ (a.a.O., S.131)

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Beuys’ Statements für die selbstgegründete Studentenpartei und für seine „Aktion für direkte Demokratie“, die er auf der documenta 1972 vorstellte, und andere Aufrufe zur direkten Demokratie sind wirr: „Wahlverweigerung und Organisation der Verweigerer zu einer nicht mehr an parteipolitischer Praxis interessierten Mehrheit zum Zwecke freier Information…“ oder „Beuys 1967  :der freie Demokratische Sozialistische Staat* EURASIA wurde am 12. Mai 1967 gegründet. …*nicht zu verwechseln mit einem demokratischen Sozialistischen Staat …“ (zitiert aus: Joseph Beuys, Multiples, Edition Jörg Schellmann, München 1972)  Sind sie nur als künstlerische Form zu sehen? Aber das wäre dem Anliegen von Beuys nicht entsprechend. Er wollte politisch Ernst genommen werden. Schließlich kreierte er die soziale Plastik, ein Konzept, das alles Gestalten, insbesondere im Sozialen, zur Kunst machte, aus deren kreativem Potential das Heil entspringe. Und er nahm hier für sich eine hervorragende Rolle in Anspruch, die dann auch dazu führen sollte, dass er Gründungsmitglied der Partei „Die Grünen“ wurde. Wieso eigentlich? Was ist das für ein merkwürdiges Publikum in diesem damaligen Westdeutschland gewesen, das sich durch Beuys in seinen Grundüberzeugungen gestärkt fühlen konnte, ohne ihn wörtlich zu nehmen? (Denn dann hätten sie ja alle Anthroposophen werden müssen. Oder zumindest Anhänger der Theorie vom Dritten Weg.) Ich denke, Beuys verstand es, Stimmungen aufzugreifen und ihnen die Aura des Bedeutsamen zu verleihen – mit der Folge einer begrifflichen Verdunklung.

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Ich war also in der Situation, den Künstler Beuys für mich retten zu können nur um den Preis, dass ich ihn als Sozialrevolutionär oder Propheten einer demokratischeren, ökologisch bewussteren, gerechteren Ordnung, als der er ja auftrat, nicht Ernst nahm und all sein Analysieren, Theoretisieren und Politisieren nur als ästhetisches Mittel ansah. (So kann ich ja auch den ästhetischen Gehalt der Malerei der Gegenreformation von ihrem agitatorischen Anliegen trennen und genießen.) Als ich Beuys auf der documenta 5 im Jahr 1972 an seinem Stand für direkte Demokratie agieren sah, wandte ich mich nach einigem Zuhören mit Grausen ab. Spätestens bei seiner auf der documenta 6 1977 ausgestellten „Honigpumpe“ musste ich feststellen, dass dieses Abtrennen des Künstlers vom übrigen Beuys nicht durchzuhalten war. Immer wieder schob sich in die Zwiesprache zwischen mir und dem Artefakt das mir dümmlich erscheinende Gerede von Beuys. Es erschien nicht möglich, die Assoziationen zu den Materialien frei von seinen Vorgaben zu entwickeln. Seine Heilsbotschaft kann einfach nicht ignoriert werden, wenn man sich auf das Werk einlässt. Insofern fühle ich mich unbehaglich, weil unfrei. Ein ähnliches Gefühl kannte ich von der Rezeption des Wagnerschen Werkes. Allerdings gelang und gelingt es mir dort, von den Texten weitgehend abstrahierend, die Musik positiv anzunehmen. Warum schaffe ich das bei Beuys nicht? Weil er noch zu gegenwärtig ist, mir der Abstand zum heutigen und gestrigen politischen Streit fehlt? Oder weil die Artefakte nicht selbständig genug auftreten, sich vom Interpreten Beuys nicht loslösen lassen, es sei denn, sie werden banal und drittrangig? Sind sie zu ungeformt, um alleine zu bestehen? Bei Wagner kann ich eine gewaltige, damals neuartige und sehr differenzierte musikalische Formensprache auf mich wirken lassen und brauche vom Libretto nur das Wesentliche zu wissen. Feinheiten des Textes und ihre mythologische Fracht interessieren mich nicht. Am liebsten wäre mir, den Gesang in einer Fremdsprache zu vernehmen. Bei Beuys hingegen sind die Artefakte im gewöhnlichen Sinne oft so wenig geformt und lapidar hingeworfen, dass sie nur als Zeichen für etwas geheimnisvolles Anderes stehen können, für das sich dann seine ausgiebig dargelegte Weltanschauung nicht nur anbietet, sondern geradezu vordrängt. Oder wie soll man die im „Hamburger Bahnhof“ in Berlin aufgehäuften Wandtafeln mit den Wortfetzen und Diagrammen seiner Vortragsreihe in London anders wahrnehmen denn als Reliquien? Wie soll man nicht an Rudolf Steiners Schiefertafeln denken, die heutzutage als Heiligtümer der Anthroposophie gelten, zumal man weiß, dass Beuys selbst Anthroposoph war? Von diesen Beuysschen Tafelbergen wende ich mich  entweder  wie von anderen ungewünschten Agitationen ab oder ich lasse sie als Belästigung über mich ergehen, sehe mich dann aber zum Widerspruch genötigt.

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Hier setzt eine meiner Verwunderungen ein. Warum spricht man, wenn es bei den beruflichen Kunstinterpreten auf Lehrstühlen, in den Museen oder in den Redaktionsstuben um Beuys geht, nie Klartext bezüglich seiner Weltanschauung im Großen und seiner Vorstellungen zu Politik und Gesellschaft im Besonderen? Warum betont man einerseits, dass Beuys mit seinem Begriff der „sozialen Plastik“ die künstlerische und die politische Praxis gleichsetzt (wie er ja noch viele andere sinnlose Gleichungen aufmacht), und  zieht sich dann immer unkritisch zurück, wenn es um die Prüfung des Wahrheitsgehalts dieser Gleichungen und der Beuysschen Ausführungen gehen müsste? Ist es etwa nicht möglich, auszusprechen, was an ihnen Unsinn, wirres Zeug oder schlichtweg sektiererische Religion ist, ohne sein künstlerisches Werk zu beschädigen? Woher diese Scheu? Ist es eine stillschweigende Verabredung („so etwas tut man nicht“)? Oder hat man Angst, zu sagen, der Kaiser sei nackt, sprich: Beuys wohl ein bedeutender Künstler, aber kein Universalgenie?  Kurz: Ich vermisse, dass ein Berufener aus dem ästhetischen Fach bei Beuys die Spreu vom Weizen trennt. Ich vermisse im Fall Beuys nichts Geringeres als die kritische Kunstwissenschaft. (Oder – böser Verdacht – gibt es die ohnehin nicht mehr, weil die Definitionsmacht des Kunstmarkts sie ausgehebelt hat?)

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In ihrer Weihnachtsausgabe von 1978 überraschte die Frankfurter Rundschau mit einem ganzseitigen  Aufsatz von Joseph Beuys „Die Alternative“. Darin wird das linksanthroposophische Gesellschaftsmodell des Achberger Kreises dargelegt, ohne explizit darauf hinzuweisen. Es wird so getan, als sei der Text aus der Feder von Beuys. Tatsächlich hat Beuys bei den Achbergern mitdiskutiert, aber geschrieben hat er diesen Text nie und nimmer, wie ein Stilvergleich mit eindeutig authentischen Beuys-Texten belegt. Hier haben wir ein Beispiel für die gegenseitige Benutzung: Beuys stellt seinen klingenden Namen zur Verfügung, das nützt den Achbergern. Und die Achberger staffieren den Künstler Beuys mit einem bedeutenden soziologischen Text aus, ihn so in den Rang eines Universalisten hebend: den Leonardo des 20. Jahrhunderts. Nach diesem Muster der gegenseitigen Vorteilsgewährung funktioniert vieles bis heute: etwa das Editionswesen, der Kunstmarkt sowieso, auch Nachfolge-Karrieren. Wenn einer erst mal medien-mächtig geworden ist, dann ist er wirkmächtig, und das gilt als erstes Qualitätskriterium von Kunst. So gesehen ist die Bedeutsamkeit von Kunst machbar – zumindest für einige Zeit.

7Warum sträubt sich mir alles bei jenen Beuysschen Werken, die mit dem Anspruch der Heilslehre auftreten, nicht jedoch bei den bescheideneren Arbeiten der Frühzeit? Seine Zeichnungen finde ich faszinierend. Auch wenn hier die Steinersche und vielleicht auch noch andere Heilslehren angedeutet werden – so war Beuys ja auch mal ein Rosenkreuzler – , haben sie nichts Nötigendes. Ich denke, es liegt daran, dass diese Werke in den eng gezogenen Gattungsgrenzen verbleiben. Dadurch treten sie mir nicht zu nahe. Ich muss dem Anspruch, jeder sei ein Künstler und jede Tat sei soziale Plastik und was der Weisheiten und Neuigkeiten bei Beuys mehr sind, nicht folgen, selbst wenn er im Werk enthalten ist, weil ich den Anspruch „anschauen“ darf. Das gibt mir bzw. lässt mir die Freiheit, ihn zu ignorieren oder zu relativieren, ich kann mit dem Kunstwerk autonom umgehen. Die spätere Beuyssche Entgrenzung von Kunst, ihren Wirkungskreis ins Maßlose steigernd und zugleich wieder ins Nichts zurücknehmend, wodurch sie alles oder nichts sein kann, überwältigt, entwaffnet, macht ratlos oder ruft Ablehnung hervor.

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Die frühen Zeichnungen wirken sehr authentisch, da ist eine Suchbewegung zu spüren, noch keine Gewissheit, da wird nicht auf einen Effekt beim Publikum spekuliert. Doch wie steht es mit der Authentizität bei Beuys überhaupt?

Ich denke, wenn jemand mit einer aus eigener Erfahrung begründeten Weltverbesserungslehre auftritt, dann sollten seine der Öffentlichkeit mitgeteilten Schlüsselerlebnisse wahr sein. Das Schlüsselerlebnis ist Beuys’ Absturz mit einem Sturzkampfflugzeug auf der Krim im Jahre 1944. Und genau dieses Erlebnis, das vor allem die Materialien Filz und Fett begründet, ist – vom Absturz selbst abgesehen – erfunden. Wie schon Gieseke und Markert (Frank Gieseke/ Albert Markert, Flieger, Filz und Vaterland, Elefanten Press, Berlin1996) in ihrem Buch nachwiesen und wie es auch erneut der Künstler Jörg Herold (Jörg Herold, Heldenfriedhof, Kunstprojekt, Overbeck-Gesellschaft Lübeck mit Galerie EIGEN+ART Leipzig 28.10.-2.12.2001) auf der Krim selbst nachrecherchiert hat, gab es nie die Errettung durch nomadisierende Tataren, gab es nie die mehrtägige Pflege mit Filz und Fett, sondern war Beuys nach seinem Absturz nur leicht verletzt ins Lazarett gebracht worden und schon nach wenigen Tagen wieder einsatzbereit. Herold: „In Vorbereitung der Recherche zum Projekt Heldenfriedhof war es mir dank finanzieller Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und dem Kunstfond Bonn im Frühjahr 2000 und 2001 möglich, mich an den Ort zu begeben, an dem Joseph Beuys und sein Pilot Hans Laurinck am 16. März 1944 mit einer Junkers, Ju-87 (bekannt auch als STUKA) abstürzten. Bekannt als die ‚Tatarenlegende’, beschrieben Kunsthistoriker und Autoren detailliert die dramatischen Erinnerungen des Joseph Beuys zur Zeit seines Krimaufenthaltes als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Seit Ende der achtziger Jahre wurde jedoch vielen klar, daß Beuys seine Erlebnisse nach dem Absturz auf der Krim erfunden haben muß. Nach Auskünften der Dienststellen ist klar, daß seine Maschine am 16. März 1944 abstürzte und er ab dem 17. März in einem mobilen Feldlazarett medizinisch versorgt wurde. Es bleiben also 24 Stunden ‚freier Fall’ für die Interpretation der ‚Tatarenlegende’.  Hierbei hatte sich nun im Lauf der Jahre ein enges Netz an Mutmaßungen und Beweisführungen um den Künstler Joseph Beuys gebildet, welches eine Debatte auslöste, die bis heute keine Klärung fand. Mitten in dieser Diskussion über Wahrheit, Mythos, Widerspruch und Lüge hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, ein eigenes Bild vom Ort der Ereignisse zu finden und möglicherweise Zeitzeugen aufzuspüren, die am Tag des Absturzes dem Soldaten Joseph Beuys begegnet sein könnten. … (Veröffentlichungstermin ca. September/ Oktober (2001) in der Reihe Edition j. j. Heckenhauer)“ (Skript von J. Herold zur o.a. Ausstellung)   Markert und Gieseke wollten Beuys mit ihrem Buch am Zeuge flicken – zu Recht -, Jörg Herold will das nicht, seine ernüchternden Erkenntnisse über das damalige Geschehen sind nur Abfallprodukte seiner künstlerischen Interessen. Befragt, wie er das sehe, dass Beuys hier eine Legende gesponnen habe, weist er auf mögliche gehirntraumatische Phänomene hin, die ihn die Ereignisse gewissermaßen halluzinieren ließen. – Wenn ich dem folge, dann ist – zumindest in der Kunst – alles authentisch, was vom Künstler kommt, Hauptsache, er selbst glaubt daran. Ich halte dagegen: Berichte über historische Fakten bleiben auf ihren Wahrheitsgehalt hin nachprüfbar unbeschadet dessen, was der Überbringer der Nachricht glaubt. Warum hier Ausnahmen für Künstler gestatten, zumal bei solchen, die den Unterschied zwischen Kunst und Politik und Leben überhaupt auflösen wollen?

Auch hier wundere ich mich wieder über das Publikum: Es möchte diese Geschichte glauben und wehrt sich gegen ihre Entzauberung. Natürlich wehren sich alle die, die mit materiellen Interessen an der Beuys-schen Heilsgeschichte kleben; denn mit Beuys wurde gut verdient und wurden Karrieren gemacht. Aber es gibt wohl auch eine Trägheit der menschlichen Psyche, die emotional „abgesicherte“ Überzeugungen nicht umstoßen lässt. Eine Präzisierung dieser Trägheit könnte auch politischer Natur sein: In Beuys’ Leben und Werk findet eine Versöhnung mit der schrecklichen deutschen Vergangenheit statt, die im Gewand der Aufarbeitung daherkommt, aber in ihrer unpräzisen Allgemeinheit die schmerzhafte Konfrontation mit den wirklichen Geschehnissen erspart. Diese These wird von Gieseke und Markert untermauert. Mit Beuys, der z.B. seinen Dienst in der Hitlerschen Luftwaffe mit euphemistischen Ausdrücken wie „ berührte die Krim“  kennzeichnet, ist man wieder bei den „Guten“, die zudem noch die Welt retten werden, also bei den ganz Guten.

Ein analoges Phänomen: Die Überzeugungen gläubiger Christen beruhen darauf, dass Jesus real existiert hat und seinen im Selbstopfer endenden Gang wirklich gegangen ist. Wenn nun einer nachwiese, die Gestalt Jesus sei fiktiv und das Neue Testament beruhe auf der Biografie eines anderen Menschen, der sogar ein Jahrhundert vorher gelebt habe als der vorgebliche Jesus? Müsste man nicht erwarten, dass gläubige Christen sich mit Feuereifer mit dieser These beschäftigen, um evtl. ihre Glaubensgrundsätze zu überprüfen? Oder müsste man erwarten, dass sie von diesem Beweis lieber keine Kenntnis nehmen möchten? Offensichtlich ist Letzteres der Fall; denn diesen Nachweis bzw. den recht überzeugend vorgebrachten Versuch eines Nachweises gibt es: Francesco Carotta erbrachte ihn 1999. (Francesco Carotta, War Jesus Caesar?, Goldmann Verlag, 1999) „Ob die Geschichte des Neuen Testaments und ob der Jesus Wirklichkeit waren oder ob Jesus ein ganz anderer war, interessiert mich nicht. Ich interessiere mich nur für die Wirkung “, ist die typische Reaktion auf so einen Nachweis. – Ich denke, ähnlich hermetisch ist der Glaube an Beuys, und dass das Buch von Markert und Gieseke verpufft ist, hat nicht nur mit dessen Schwächen zu tun, sondern mit Gefühlslagen in deutschen Bildungsbürgerkreisen. Gefühle setzen sich gegen Aufklärungen zur Wehr.

Und wie in der richtigen Religion, so auch bei Beuys: Abfallprodukte seiner Tätigkeiten werden Reliquien, kündend vom Geist, der bei diesen Aktionen wehte, und praktischerweise zugleich ein teures Kunstgut darstellend. Beispiele: das thermo-plastische Urmeter oder das Erdtelefon, von dem an anderem Orte in diesem Skript die Rede ist. Im Unterschied zu anderen Religionsstiftern hat Beuys seine Reliquien oft noch selbst signiert bzw. durch Stempel beglaubigt.

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Ich habe nichts gegen die Religiosität von Beuys. Da sei das Toleranzgebot vor! Mich stört es auch nicht, wenn ihm die Religion künstlerischer Stimulus ist – wie ich das bei seinen frühen Werken sehe -, aber mich stört, wenn er mich missionieren will, ja mehr als das: wenn er sogar sich selbst als den Heiland anbietet. Um welche Religion handelt es sich? – Unschwer aus seinen Äußerungen und aus der verwendeten Symbolik zu ersehen: Es ist eine esoterische Sicht der Welt. „Ob ich nicht daran interessiert bin, durch diese Filzelemente die ganze farbige Welt als Gegenbild zum Menschen zu erzeugen, danach fragt keiner. Also: eine lichte Welt, eine klare lichte, unter Umständen eine übersinnliche geistige Welt damit sozusagen zu provozieren…“ (Joseph Beuys, Multiples, Edition Jörg Schellmann, München  1972, o.S.) Die materielle Welt befindet sich kraft des Menschen auf dem Weg zum  präexistenten Geist. Es bedarf des Menschen, um sie ins Geistige zu transformieren. Und da gibt es die Seher, die den Weg weisen. Gern sah Beuys sich als Schamanen. Nun gut, wer es braucht… Da mir die gnostische Sicht der Welt (alles sei auf dem Weg zum Licht/ zum Geist) ebenso fremd ist wie die gesamte Weltanschauung der Anthroposophie, brauche ich diesen schamanistischen Führer nicht, ja kann ich mir ein Lächeln ob seines Tuns nicht verkneifen. Wenn er sich aber in meine Kontemplation mit seinen nun leider nicht mehr autonomen Kunstwerken einmischt, werde ich ärgerlich. Und ich erkenne, wie sinnvoll Disziplinen und Grenzen sind – eine Erkenntnis, die sich der anderen Erkenntnis zugesellt: nämlich dass die interessantesten Ergebnisse gerade im Grenzbereich der Disziplinen zu erwarten sind. Doch wo Grenzenlosigkeit herrscht, gibt es auch keine Grenzbereiche mehr.

Kunst ist nicht gleich Leben, sondern künstlich. Erlebnisse sind keine (Kunst)werke. Nicht jeder Mensch ist ein Künstler. Einen Geist höherer Seinssphären gibt es nicht. Kapital ist ein Begriff der Eigentums-Wirtschaft, nicht der Ästhetik. Parteiendemokratie ist nicht böse. Eine Gesellschaft ist keine Plastik. Sprache und Volk sind nicht eins. Braun ist nicht die Komplementärfarbe von Gold.