Nature morte oder Devita migrare
Rede in St. Trinitatis, Hamburg-Altona am 12. November 1998 anläßlich der Ausstellung von Heiner Studt
Leicht gekürzt im Katalog „Die großen Hand-Drucke“
Zwei riesige Altarbilder, über zehn Meter hoch, von Peter Paul Rubens schmücken den Antwerpener Dom. Links vom Chor die Kreuzaufrichtung, rechts die Kreuzabnahme. Sie sind in den leuchtendsten Farben gemalt: Rot, Goldgelb, Blau in den Gewändern und im Himmel. Muskelpakete zieren die wuchtenden Männer. Und am Rande, wo es sich gehört, steht die Gruppe der weinenden Marien. Erhaben ist ihre Trauer (sie verdient bei der Verneigung am Schluss des Stückes einen Sonderapplaus). Fleischig und füllig sind diese Schönen, köstlich gemalt ihre Tränen, berauscht sind sie wie ihre Zuschauer von der Gewalt des Heilsgeschehens: sichtbar im herrlichen Leib des Gekreuzigten.
Nicht weit davon liegt das holländische Delft, calvinistisch, seit sich die Niederlande von Flandern die Freiheit erkämpft hatten. Nüchtern sind seine Kirchen, die Nieuwe Kerk und die Oude Kerk, fast ganz in Schwarzweiß gehalten und gerade deshalb so verlockend für die Künstler des 17. Jahrhunderts, ihre Innenräume zu malen. Es ist ein klares Licht, das seine Schatten mit Hilfe der wenigen zweckmäßigen architektonischen Glieder wirft. Und die wenigen Bilder können gar von der Rückseite gemalt werden. Und auch die Grabmäler, etwa der Oranier, werden respektlos von der Seite gemalt, so, wie sie das Licht- und Schattenspiel besonders reizvoll macht, während ein Hund respektlos die Säulenschäfte beschnüffelt. Houckgeest, den Witte und andere Zeitgenossen von Jan Vermeer hat gerade die Schmuck-losigkeit gereizt, die Register ihrer Malerei zu ziehen, kühne Perspektiven und den Facettenreichtum in der scheinbaren Monochromie. Übrigens hatten sie auch eigenwillig umgebaut, indem die Gotik des Raumes durch die weltlichen Gräber ihre horizontale Brechung erhielt.
Mit diesen Bildern im Kopf— die Hamburger Kunsthalle widmete den calvinistischen Kirchenräumen vor drei Jahren eine herrliche Ausstellung – wollen wir auf die Rückwand dieser Kirche blicken. Auch hier stehen sich zwei mächtige Hochformate gegenüber — nicht über zehn Meter hoch, aber immerhin so groß, dass sie aus den Abdrucken von 48 DIN-A3-Platten zusammengefügt wurden. (Abb. 48/49) Es gibt keine Farben, nur alle Stufen zwischen Schwarz und Weiß. Es gibt keine schimmernden Leiber, fettes oder sehniges Fleisch, keine Muskelprotze, keine Klageweiber und keinen Himmel, der sich auftut, um das brutale, grobschlächtige Geschehen ins göttliche Licht zu rücken. Und doch gibt es Vergleichbares in den pyramidalen Kompositionen und in dem Helldunkel, in das man sich erst einmal hineinsehen muß, bevor man Einzelheiten und Zusammenhänge registriert. „Stürzend 1“ und „Stürzend 2“ nennt Heiner Studt die Gebilde, in denen das Licht flackert wie beim Gewitter, das den Tod Jesu begleitete, während der Vorhang im Tempel in zwei Stücke riß.
Golgatha, Schädelstätte: „Ein Fundstück aus dem Wendland, nämlich ein der Verwitterung ausgesetzter Rinderschädelknochen, brachte mich in einen Arbeitsprozeß, der zu dieser Serie führte.“ Und auch der Vorhang mag anklingen oder das Leichentuch, die Latten des Holzes. Studt spricht von „inszenierten Situationen aus Schädeln, Tüchern, zerknüllten Papieren, Latten und Ähnlichem, die ich zunächst fotografierte, um sie dann weiterzubearbeiten. (Abb. 36—47) Anmutungen an manieristische oder barocke Gemälde, etwa eines Tintoretto, sind mir willkommen“. Tintoretto war es, der mit dem riesigen Kreuzaufrichtungsbild in der Scuola di San Rocco in Venedig Generationen von Künstlern anregte — zu ihnen gehörte auch Rubens. Flackernd ist Tintorettos Licht, fahl sind seine Farben, Sekundärfärben wie Violett und Orange ins düstere Braun vermischt, unwirklich ist die Szene entsprechend dem außerirdischen Geschehen.
Dramatisches ließe sich auch in Heiner Studts Kompositionen entdecken, in denen sich dokumentarisches Fotomaterial mit kunstvollen Drapierungen vermischt. Der Rinderschädel, immer wieder gedreht und gewendet. Schon der Zeitgenosse von Tintoretto, Benvenuto Cellini, der eine der spannendsten Autobiografien am Anfang der Neuzeit schrieb, sprach von über 40 Ansichten, die seine Figurenskulpturen hätten. Doch die möglichen Varianten sind bei Studt unendlich; denn die vielen Fotoansichten lassen sich immer wieder durch Licht verändern, dann aber auch durch alle Stufen der Verkleinerung und Vergrößerung, durch Schärfen und Unscharfen im langwierigen Prozess, der mit dem Aufbau des Stillebens beginnt, das schon im Barock „nature morte“ genannt wurde wie unser Ausstellungstitel: die tote Natur, die der Maler durch seine Kunst zu neuem Leben erweckt, also eine Art Auferstehungsgedanke, wenn man so will. Täuschend echte Natürlichkeit, so vollkommen, dass die Vögel vom Himmel stürzen, um in die Beeren zu picken, die der antike Maler Xeuxis auf der Leinwand schuf, während es seinem Rivalen Parasias gelang, den Xeuxis selbst zu täuschen, der gönnerhaft den Vorhang vom Bild des Parasias entfernen wollte und dabei feststellen musste, dass der Vorhang gemalt war. Im Barock begeisterte man sich für diese antike Überlieferung und spielte mit den Augenbetrügerchen, dem trompe-l’oil, oft so vernarrt ins Detail, dass man den sinnbildlichen Gedanken von Tod und Auferstehung in aller Stille vergaß.
Doch betrügen tut Heiner Studt unsere Augen nicht, eher verwirren und ein wenig hinters Licht führen, z. B. mit dem Licht. Das lässt er zwar auch schon bei dem ersten Foto kunstvoll scheinen, doch dann geht es kunstvoll weiter, indem z. B. Verkleinerungen als Fotokopien angefertigt werden, auf denen sich behutsam schaben lässt, bis das Werk des Toners hinfällig geworden ist und auf diese Weise Dunkelheiten sich in grelles Licht verwandeln. Oder es wird ganz einfach ins Fotopapier geritzt, und schon bei dem nächsten Reproduktionsgang lassen sich Drähte und Ritzungen nicht mehr voneinander unterscheiden.
„Für mich sind die Bilder meiner Schädelserie auch ein Erinnern und Selbsterinnern an die Vergänglichkeit alles Organischen. Das ist nichts Bedrückendes, vielmehr erhöht es den Genuss des Lebendigen. Mir geht es gut.“ So kommentiert Studt seine Knochengebilde, die er vor ihrer endgültigen Verwesung als Sinnbild bewahrte.
Es sind genaugenommen verschiedene Schädelserien, die mit den zwei Kuhschädeln, „Schädel und Draht“ genannt, und die mit dem einen Schädel, schlicht „Schädel“ genannt. Und dann gibt es links und rechts vom Altarraum noch „UXI“ und „UXII“ (Abb. 31-35). Leicht macht es uns Studt nicht mit seinen Titeln; denn er will unsere Phantasie und Entdeckerfreude nicht einschränken, ist im Gegenteil neugierig darauf, zu erfahren, wie wir das Einzelne und das Ganze sehen. Dabei lohnt die Genauigkeit des Blickes: Da kann man zwischen den Verwandlungen von zusammengeknülltem Papier romantische Landschaften a la Caspar David Friedrich aufstöbern, tatsächlich fotografierte und andere, die entstanden sind entsprechend der Empfehlung von Leonardo, einfach einen Schwamm gegen die Wand zu werfen und in seinem Abdruck auf Landschaftssuche zu gehen.
Ein Wort zur Technik, obwohl sie viel zu kompliziert ist, als dass ich sie erklären könnte. Doch dazu ist Studt gern auf Anfrage bereit, wie er sich überhaupt gern zu seinen Bildern erklärt, nicht nur mit den präzisen Texten seines Ausstellungsblattes, sondern auch im Gespräch. Es sind Offset-Drucke: „(vom engl. Offset Abzweigung) … ein Flachdruckverfahren, bei dem Schrift oder Bild auf einen mit einem Gummituch versehenen Zylinder und von diesem auf das Papier übertragen werden (Indirektdruck).“ Ich überschlage ein wenig die weiteren Brockhaus-Erklärungen und zitiere das Ende: „Der O. ist bes. geeignet für hohe Auflagenzahlen.“ Hier spätestens merken wir, dass Studt den Offsetdruck in jeder Hinsicht zweckentfremdet. Denn es sind Auflagen von zwei oder drei Exemplaren, in langwierigem Verfahren erzeugt, während der Offsetdruck ursprünglich ja auch der raschen Produktion und Verbreitung dienen sollte. Doch hier wird in vielen Schritten um Lösungen gerungen: Motivsuche, Motivaufbau, Ausleuchten, Fotografieren in allen Ansichten, Sichtung und Auswahl der Fotografien, Ausschnittsuche, Vergrößern und Verkleinern, Fotokopieren, Kratzen, Ausschaben der Fotokopien, Bemalen in Mischtechniken (z. B. weiße Gouache-Farbe). Und schließlich, am Ende steht der Druck, bei dem mit der Hand die Farbe gerieben wird. „Mich interessiert die Kombination von Handarbeit — also Zeichnung, Malerei, Kratzen und Klecksen, Reiben und Drücken — mit apparativer Technik, d. h. Fotografieren, Rastern, Drucken. Bei der Art des Abdruckens, wie ich sie .erfunden‘ habe und für die eine Kleinoffsetpresse notwendig ist, vermischen sich die unterschiedlichen Weisen der Bildentstehung im Endprodukt zu einer Einheit, die dennoch eine Vielschichtigkeit erahnen lässt…“
An einen großen Vorläufer des Druckexperiments, den Kontrapunkt zum Maler für sten Rubens, möchte ich erinnern. Er begann seine Malerlaufbahn nicht weit von Delft, wo die bereits genannten Maler ihre Kirchenräume entdeckten, geprägt vom nüchternen, bildermuffeligen Geist des Protestantismus. Ich denke an Rembrandt, der ja bereits in den ersten Jahren in Leiden fast ganz auf die Farben verzichtete und die Technik des Radierens entwickelte, mit der er den Kupferstich auf den Kopf stellte. Es ging nicht um Reproduktion, sondern um das Experimentieren und Erfinden von Tonigkeiten und Kaltnadellinien, die durch die Handschrift des Künstlers zum Blühen gerieten, ein Vorantasten von Zustandsdruck zu Zustandsdruck, von Tonigkeit und Abstraktion und eine Herausforderung an die Phantasie der Betrachterinnen. Das Schwarzweiß nicht als Sparmaßnahme, aber als Bekenntnis, arte povera, keine repräsentative Vorzeigekunst, sondern der Verzicht auf Farbe als Herausforderung zu einer leisen Kunstsprache, mit der sich im pianissimo noch immer neue Klangnuancen entdecken lassen.
Thomas Sello, 1945 geboren in Seibshof bei Berlin, Studium der Kunstgeschichte und Pädagogik, ist Leiter der Museumspädagogik an der Hamburger Kunsthalle.